Massengrab Mittelmeer
Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union
Von Cornelia Bolesch, „Süddeutsche Zeitung“
230 Tote, in der vergangenen Woche ertrunken vor der Küste Libyens – das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer will nicht enden. Dort, wo Millionen von Europäern Urlaub machen und die Sonne genießen, sind schon Tausende von Menschen gestorben, die vor Krieg, Hunger oder Hoffnungslosigkeit aus ihrer Heimat flüchten.
Ihrem Tod folgen die Rituale des Entsetzens, der Empörung und der Schuldzuweisungen – so auch diesmal. Viele Flüchtlingshelfer geben Europa die Schuld an der menschlichen Tragödie. Die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex wird als grausamer Dämon gezeichnet, der Krieg gegen die Flüchtlinge führt.
Dabei hat der Direktor dieser Agentur jüngst in Brüssel berichtet, dass die Menschenhändler die Frontex-Einsätze schon längst in ihre Geschäfte einkalkuliert haben. Von vielen Flüchtlingen habe man erfahren, dass sie von ihren Schleusern den Auftrag mit auf den Weg bekommen hätten, ihre Boote beim Anblick der europäischen Patrouillen zum Sinken zu bringen, um ganz sicher gerettet und auf das europäische Festland gebracht zu werden.
Anstatt Flüchtlinge von ihrer gefährlichen Reise abzuhalten und den Schleusern das Geschäft zu erschweren, sind europäische Grenzschützer also offenbar längst zu unfreiwilligen Helfern der kriminellen Schleuser geworden. Das zeigt, wie bizarr, verflochten und komplex die Problematik bei der globalen Wanderschaft armer Menschen geworden ist.
Europas Politiker führen keinen Krieg gegen verzweifelte Flüchtlinge. Sie stellen sich der Organisierten Kriminalität in den Weg, die das Schleusen von Menschen quer über die Kontinente als einträgliches Geschäft neben dem Drogen- und Waffenhandel betreibt. Zu Europas Gegnern gehören aber auch korrupte afrikanische Regierungen, denen das Schicksal ihrer eigenen Landsleute völlig gleichgültig ist. Diese reichen Potentaten lassen ihre Völker verarmen und sehen in großer Gelassenheit ihrem Exodus in den Westen zu. Wie unter solchen Umständen sinnvolle Entwicklungshilfe geleistet und Armut beseitigt werden kann, ist wieder so eine komplizierte Frage, auf die keiner, der seriös bleiben will, eine schnelle Antwort findet.
Grenzschutz ist unter diesen Umständen nichts Böses, sondern ein Gebot der politischen Vernunft. Dass weltweit alle Grenzen fallen und die Menschen überall hinziehen können, wo sie wollen – diese Vorstellung von einer Weltbürgerschaft ist bis auf Weiteres nur eine schöne Utopie. Bis es dahin kommt, ist Grenzschutz überhaupt erst die Voraussetzung dafür, Migration und ihre sozialen Folgen zu kontrollieren und ohne größere Konflikte bewältigen zu können.
Es gilt also, auch mit Hilfe von bewachten Grenzen Zeit zu gewinnen. Zeit, um Konzepte für Migration zu entwickeln und umzusetzen, die Armutswanderern helfen können. Asylberechtigte Flüchtlinge dürfen an solchen Grenzen jedoch nicht scheitern. Lösungen und Konzepte gibt es in Europa dafür schon viele. Die Schubladen in Brüssel quellen über mit den Papieren. Konkrete Projekte sind entstanden. All dies also gibt es. Es ist wichtig und verdienstvoll. Aber natürlich ist es nicht genug.
Was vor allen Dingen fehlt, ist die Dringlichkeit, die Leidenschaft, mit der Politiker signalisieren, dass sie die Dramatik eines Problems wirklich erkannt haben und entschlossen sind, es anzupacken. Einwanderungspolitik und Flüchtlingsschutz haben in Europa noch längst nicht den Stellenwert, den sie verdienen. Dabei haben die Politiker der Welt gerade gezeigt, wozu sie fähig sind, wenn ihnen eine Sache wirklich unter die Haut geht. In London haben sie wichtige Beschlüsse zu einer weltweiten Ordnung für Banken und Finanzen gefasst. Doch warum gibt es auf ihrem Radarschirm bisher nur zwei globale Herausforderungen: die Finanzkrise und den Klimawandel. Gehörte nicht längst auch die globale Armutswanderung und die Not der Flüchtlinge dazu? Der Druck auf den Westen wird wegen des Klimawandels und der Auswirkungen der Wirtschaftskrise immer weiter steigen.
Es scheint ein gutes Zeichen zu sein, dass im Juli Schweden die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Der schwedische Migrationsminister Tobias Billström war kürzlich in Brüssel und er hat ganz neue Töne angeschlagen. Er hält die Förderung weltweiter Mobilität für eine der wichtigsten Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise. Europa, so sagte er, müsse sich daher das Ziel einer vorausschauenden, einer breit angelegten und einer umfassenden Einwanderungspolitik setzen. Nicht nur, wenn es um Waren geht, auch bei Menschen könne Protektionismus niemals die Lösung sein.