Aufnahme- und Verfahrensstandards für Asylsuchende: Deutschland setzt europäisches Recht nicht um
Presseerklärung PRO ASYL, 20. Juli 2015 / Die deutsche Bundesregierung weigert sich europäische Standards aus den EU-Asylrichtlinien umzusetzen. PRO ASYL fordert eine schnelle und flüchtlingsfreundliche Umsetzung und erwartet von der Europäischen Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.
Am heutigen Tag läuft die Frist ab, die die EU den Mitgliedstaaten zur Umsetzung europäischer Standards für die Flüchtlingsaufnahme gegeben hat. Die Bundesregierung hat bislang nicht einmal einen Gesetzentwurf vorgelegt, um die im Jahr 2013 verabschiedeten Richtlinien über die sozialen Aufnahmestandards für Asylsuchende und die Rechte im Asylverfahren umzusetzen.
Zwei Jahre hatten die EU-Staaten Zeit, das neue Recht umzusetzen. Die Bundesregierung missachtet bewusst europäische Standards, die die Situation von Flüchtlingen verbessern würden. „Wir fordern die Europäische Kommission auf, gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten“, sagt Marei Pelzer, Rechtspolitische Referentin von PRO ASYL.
Die Aufnahmerichtlinie sieht grundlegende Verbesserungen für die Behandlung von traumatisierten und psychisch kranken Flüchtlingen vor. Nach Art. 19 und 21 der Aufnahmerichtlinie müssen die besonderen Bedürfnisse von Flüchtlingen festgestellt und entsprechend behandelt werden. „Vor diesem Hintergrund ist es ein Skandal, dass viele psychosozialen Zentren in Deutschland keine öffentliche Förderung erhalten – der Bund fördert lediglich vier Zentren“, so Marei Pelzer von PRO ASYL. „Um die Anforderungen aus der Aufnahmerichtlinie zu erfüllen, müssten gerade jetzt erheblich mehr Strukturen aufgebaut werden.“
Insbesondere weite Teile des Asylbewerberleistungsgesetzes sind nach Ansicht von PRO ASYL europarechtswidrig. Etwa die Regelungen, wonach Leistungen ganz oder teilweise vorenthalten werden können, weil der Betroffene nicht an seiner eigenen Abschiebung mitgewirkt hat (§ 1a). Ebenso wäre das Ansinnen der Bayerischen Landesregierung, Asylsuchende aus sog. „sicheren Herkunftsländern“ teilweise von Sozialleistungen auszuschließen, mit der Aufnahmerichtlinie nicht vereinbar, die gerade keine Leistungseinschränkungen aus migrationspolitischen Erwägungen vorsieht (Art. 17). Auch die Arbeitsverbote aus derartigen Motiven sind europarechtswidrig. „Das europäische Recht verbietet Arbeitsverbote aus rein migrationspolitischen Erwägungen“, so Marei Pelzer. Dies müsse im deutschen Recht dringend klargestellt werden.
Die Verpflichtungen aus der Asylverfahrensrichtlinie wurden ebenfalls bislang nicht umgesetzt. So verlangt Art. 6 eine Registrierung des Asylantrags spätestens nach drei Tagen. Gegenüber den europarechtlichen Maßgaben, dauern Registrierungen in Deutschland aktuell teilweise Wochen.
Neben den genannten Regelungen erachtet PRO ASYL viele weitere Aspekte des deutschen Asylrechts für unvereinbar mit europäischen Vorgaben. Bis der Gesetzgeber der Umsetzungspflicht nachkommt, müssen die Behörden und Gerichte die Richtlinien unmittelbar anwenden. Denn EU-Richtlinien sind unmittelbar anwendbar, wenn sie hinreichend genau und inhaltlich unbedingt sind. Sowohl die Aufnahme- als auch die Asylverfahrensrichtlinie enthalten hinreichend bestimmbare Regelungen für Asylsuchende. Solange Deutschland kein Gesetz zur Umsetzung der neuen Regelungen erlassen hat, werden Flüchtlinge über den Gerichtsweg ihre rechtmäßigen Ansprüche einklagen müssen.