Offener Brief zur Kundgebung von ‚Palästina Spricht’
Aktion Bleiberecht Freiburg unterstützt den Offenen Brief | Pressemitteilung | Presseerklärung | Pressemitteilung | Pressemitteilung | Für den 15.05. kündigt der Freiburger Ableger der Initiative ‚Palästina Spricht‘ eine Kundgebung auf dem Platz der Alten Synagoge an. Die Veranstaltung ist Teil der überregionalen „Nakba Aktionstage“ mit Bezug auf die sogenannten Vertreibungen von Palästinenser*innen aus heute israelischen Gebieten. Dieser wird jährlich am 15. Mai gedacht, dem Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung.
Nakba, übersetzt: Katastrophe, bezeichnet ein Leid, welches die arabische Bevölkerung heutiger israelischer Gebiete an ihrer Umsiedlung (bzw. Flucht/Vertreibung vom damaligen Mandatsgebiet Palästina im Zuge des Unabhängigkeitskriegs 1948) festmacht. Die Gruppe ‚Palästina Spricht‘ bezeichnet diese als „illegale Vertreibung“ und „unmenschliche Entvölkerung“, Massaker und Terror seien „die Wurzel des israelischen Apartheid-Systems“ (PSFR). Historisch ist diese Darstellung jedoch höchst umstritten. Es wird ausgeblendet, dass die Ursache für Flucht, Umsiedlung und Vertreibung der Palästinenser*innen in einem Krieg liegen, der nicht von Israel ausging, sondern eine ideologisch vom Hass auf Juden*Jüdinnen motivierte Reaktion der Israel umgebenden Staaten auf die Staatsgründung war – Ziel war die Vernichtung Israels. Aus wissenschaftlicher Forschung ergibt sich eine Bandbreite unterschiedlicher Prozesse von ethnischen Säuberungen bis zu freiwilliger Migration in beide Richtungen. Betroffen waren und sind also auch Juden*Jüdinnen, die damals arabische Gebiete verließen. ‚Palästina Spricht‘ schweigt darüber, dass es auch zu massiven Vertreibungen und Verfolgungen von Juden*Jüdinnen in arabischen Ländern kam.
Der gesamte Aufruf entspricht einem simplen Täter-Opfer-Schema. In der Annahme illegaler Vertreibungen mit der unterstellten Absicht, ein Apartheid-System zu errichten, wird Israel das Existenzrecht abgesprochen. Dabei erscheint die Bezeichnung Israels als Apartheid-System, also als ein auf ‚Rassentrennung‘ basierendes koloniales System, beinahe schon als selbstverständliche Aussage am Rande. Aus einem antirassistischen Impuls heraus werden Jüdinnen*Juden als ‚weiß‘ gelesen, als fremd und in böser Absicht zugewandert. Auch dieses Bild entspricht nicht den historischen Fakten: Die ältesten Nachweise für jüdisches Leben in der Region in und um Israel sind über 3700 Jahre alt. Zudem wird hier ausgeblendet, worin die Ursache der Staatsgründung Israels liegt: in der Shoah und dem weltweit grassierenden Antisemitismus. In manchen antirassistischen Kontexten wird (israelbezogener) Antisemitismus nicht thematisiert, weil Juden*Jüdinnen teils als ‚weiß‘ (und somit als Unterdrücker) kategorisiert werden. Diese Kategorisierung verharmlost das eliminatorische Gewaltpotential des Hasses gegen Juden*Jüdinnen.
Über ein Gedenken der vor 73 Jahren stattgefundenen Ereignisse hinaus konstruiert ‚Palästina Spricht‘ unter der Bezeichnung als „andauernde Nakba“ eine stets aktuelle Fortführung eines vergangenen Ereignisses in seiner einseitigen Interpretation. Ausgehend von dieser Sichtweise führt die ausgiebige Schilderung als „unmenschliche Taten“ Israels zur Forderung nach „Gerechtigkeit für die Palästinenser*innen“ (PS-FR). Wie eine solche Gerechtigkeit aussehen soll, ist erst auf den zweiten Blick zu erfahren: Eine Überschrift der Website lautet „Wir werden zurückkehren! Wir werden nach Hause kommen“ und der BZ zufolge fordert ‚Palästina Spricht‘ „ein freies Palästina, vom Jordan bis zum Mittelmeer“ und beansprucht damit das Gebiet des heutigen Israels.
Neben der Geschichtsverfälschung, der einseitigen Täter-Opfer-Zuschreibung, der Ausblendung der Existenz antisemitischer Diskriminierung gegen Juden*Jüdinnen und der Forderung nach einem Gebiet, das heute überwiegend von Juden*Jüdinnen bewohnt ist, wirkt die Wahl des Veranstaltungsortes fast nebensächlich. Doch der Schritt, antiisraelische Propaganda in diesem Ausmaß ausgerechnet am Gedenkort der von deutschen Faschisten zerstörten Synagoge zu verbreiten, stellt eine Provokation dar:
Hier wird das Gedenken der sogenannten Nakba auf eine Ebene gestellt mit dem Gedenken der Shoah, als seien die Ereignisse gleichwertig, ja am Ende noch Juden*Jüdinnen heutzutage auch nicht anders als die Nazis damals. Darüber hinaus wird somit ein alter Konflikt um Gebiete in Israel zu einer Aggression gegen heute in Deutschland lebende Jüdinnen*Juden, die sich, wie etwa die ‚Israelitische Gemeinde Freiburg‘, gegen eine solche Vereinnahmung aussprechen.
Angesichts der Kritik der Israelitischen Gemeinde am Versammlungsort im letzten Jahr, lässt sich dies nicht als Zufall entschuldigen. Denn es mangelt nicht an anderen, zentralen und versammlungstauglichen Plätzen in der Stadt. Die antisemitischen Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Deutschland unter dem Deckmantel angeblicher Israelkritik in dieser Woche zeigen, dass wir uns entschieden gegen jede Form des Antisemitismus, wie auch all jener Tendenzen, die ihm bewusst oder unbewusst Vorschub leisten können, stellen müssen. Antisemitismus muss als solcher erkannt und in aller Schärfe kritisiert werden.
Wir erklären uns solidarisch mit der Israelitischen Gemeinde und allen von Antisemitismusbetroffenen Jüdinnen*Juden.
Quellen:
– BZ: „Erinnerung und Versammlungsfreiheit“, 08.05.21
– PS-FR: „Palästina Spricht – Freiburg“, Flyer zur Kundgebung, 10.05.21
– PS: palaestinaspricht.de, 11.05.21
Unterzeichner*innen:
Fantifa Freiburg
Referat gegen Antisemitismus (StuRa Freiburg)
Anarchistische Gruppe Freiburg
Aktion Bleiberecht Freiburg