Flüchtlingspolitik in Baden-Württemberg 2022

Was sind unsere Herausforderungen bei der Flüchtlingspolitik in BW?

Allgemeine Situation in Baden-Württemberg – Die zentrale Herausforderung in der Asyl- und Migrationspolitik ist die Flucht hunderttausenden Menschen aus der Ukraine. In Baden-Württemberg wurden bis zum 30. Juni 116.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Am 14. September waren es 127.000 und am 30. September 128.000. Täglich melden sich bei den Landeserstaufnahmeeinrichtungen etwa 400 Personen. Die Aufnahmeeinrichtungen sind, so die „Lenkungsgruppe Ukraine“, „außerordentlich belastet“. Bereits im Juni 2022 wurden mehr Geflüchtete aufgenommen, als 2015 im gesamten Jahr. 2015 waren es 101.000 Menschen. Gesetzliche Grundlage der Aufnahme bildet die EU-Massenstromrichtlinie. Im April 2022 kamen in BW etwa 50 Prozent Frauen und 40 Prozent Minderjährige an.

Am 7. April 2022 wurde im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz der Rechtskreiswechsel beschlossen, d. h. ein Wechsel vom AsylbLG zu den Sozialbüchern. Danach erhalten Geflüchtete aus der Ukraine Leistungen nach dem SGB II und SGB XII. „Voraussetzung für den Leistungsanspruch nach dem SGB II bzw. XII ist grundsätzlich (1.) eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 AufenthG, (2.) die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG und (3.) die Ausstellung einer entsprechenden Fiktionsbescheinigung oder einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG durch die zuständige Ausländerbehörde.“1

Nach einem Bericht in der Augsburger Zeitung hält Baden-Württemberg angesichts steigender Flüchtlingszahlen aus der Ukraine einen Aufnahmestopp für möglich.2 Nach dem Bericht kam es bereits Anfang September zu Sperrungen im Verteilsystem durch andere Bundesländer. Baden-Württemberg, NRW und das Saarland nahmen noch Geflüchtete auf.

Damit schnell zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden kann, gibt es eine Neuauflage des Förderprogramms womit die Kommunen finanziell unterstützt werden. Das Förderprogramm wurde am 15. September 2022 gestartet34. Für die Jahre 2022 und 2023 werden insgesamt 80 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Mit der Neuauflage des Förderprogramms erhofft man sich den gleichen Effekt wie zwischen 2015-2017. Im genannten Zeitraum wurden von den Kommunen 630 Förderanträge gestellt und rund 112 Millionen € an Fördermittel abgerufen. Für insgesamt 14.000 Geflüchtete konnten durch die Finanzierung von rund 25 Prozent der Investitionskosten, 2.572 Wohnungen, 237 Wohngruppen und 103 „Gemeinschaftsunterkünfte“ geschaffen werden.

Nach Punkt 3. Zuwendungsvoraussetzungen des Förderprogramms müssen die geförderten Objekte 20 Jahre im Besitz der Gemeinde bleiben und pro Person eine Mindestfläche von 10 qm zugestehen während die gemeinschaftlich genutzte Wohnfläche anzurechnen ist. Es besteht also eine deutliche Abweichung vom in den Baugesetzen definierten „Wohnen“. Pro Quadratmeter wird mit 1.000 € gefördert, bei Container gibt es 825 € pro Quadratmeter.

Insgesamt wurden laut Redaktions Netzwerk Deutschland im September 1.015.368 Menschen im Ausländerzentralregister erfasst, die im Zusammenhang mit dem Krieg nach Deutschland eingereist sind.5

Wie läuft die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine? – Seit März 2022 übernimmt das Land Baden-Württemberg die Kosten für privat untergebrachte Geflüchtete aus der Ukraine6. „Anders als in vorherigen Flüchtlingsbewegungen kommen viele Menschen auch privat unter und direkt vor Ort an. Darauf stellen wir uns ein und reagieren mit pragmatischen Lösungen, auch in Finanzierungsfragen.“ Dabei handelt es sich um eine Sonderregelung. „Die Sonderregelung ergänzt eine Vereinbarung der Gemeinsamen Finanzkommission aus dem Jahr 2019. Die Sonderregelung wurde erforderlich, weil die Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, ohne Visum einreisen können und zunächst oftmals privat bei Freunden und Familie unterkommen.“7 Wer leerstehender Wohnraum zur Verfügung stellt, soll eine Wiedervermietungsprämie von 2.000 € erhalten. Wohnungsbauministerin Nicole Razavi (CDU) hatte bereits 2021 dieses Prämienmodell geschaffen. „Um die Wohnungsfindung für die Ukraine-Flüchtlinge wieder in Gang zu bringen, hat Landeswohnungsministerin Nicole Razavi (CDU) nun vorgeschlagen, private Vermieter zu entlohnen, wenn diese Wohnraum für Geflüchtete bereitstellen.“ Quelle „Basierend auf dem Kabinettsbeschluss vom 19.10.2021 wurden heute die Förderhinweise für das Jahr 2022 veröffentlicht.“ Die Gemeinde Möglingen in der Näher von Ludwigsburg schreibt auf ihrer Homepage: „Hinweise für Geflüchtete aus der Ukraine – Wiedervermietungsprämie sichern: Steht Ihre Wohnung seit mehr als einem halben Jahr leer, kann die Gemeinde bei einer Anmietung beim Land Baden-Württemberg eine Prämie beantragen. Die Prämie wird zum größten Teil an die Vermieter weitergegeben“. Es ist also anzunehmen, dass die Wiedervermietungsprämie von zahlreichen Gemeinden abgerufen wird.

„In Baden-Württemberg unterstützen zudem die rund 1.200 Integrationsmanager und -managerinnen die Geflüchteten. Sie kümmern sich zum Beispiel um Angebote zum Deutschlernen, zur beruflichen Qualifizierung und zur Integration in den Arbeitsmarkt. Umgekehrt habe sich bundesweit bereits Hunderte Lehrkräfte aus der Ukraine an deutschen Schulen beworben – darunter etwa 280 in Baden-Württemberg.“8

Nach Marion Gentes (Justizministerin) sind viele Geflüchtete „bei Freunden, bei Verwandten untergekommen oder von privaten Initiativen untergebracht worden.“ Laut Stuttgarter Nachrichten vom 28. August 2022 sind „rund 80 Prozent der Ukrainer in Baden-Württemberg privat untergebracht. Flüchtende aus der Ukraine könnten, anders als andere Asylsuchende, direkt bei den Stadt- und Landkreisen untergebracht werden.“9 Das entspricht etwa 90.000 Personen.

„Ihren Standort in Deutschland wählten die meisten nach ihrem Netzwerk aus Freundeskreis (56 %) und Familie (24 %); 43 Prozent waren zum Zeitpunkt der Befragung auch bei befreundeten Personen oder bei Verwandten untergebracht.“10

Da immer mehr Geflüchtete nach Baden-Württemberg verteilt werden, hat auch das Land Baden-Württemberg Anfang September sein Verteilsystem für Ukrainische Geflüchtete auf die Stadt- und Landkreise umgestellt. D. h., Gemeinden, die bereits die Aufnahmequoten erfüllt haben, bekommen weitere Geflüchtete zugewiesen.11 Mittlerweile werden jedoch in den Kommunen immer mehr Geflüchtete aus der Ukraine in Sport- und Turnhallen untergebracht.

Ukrainische Geflüchtete und Arbeit

Ende August waren in Baden-Württemberg etwa 49.800 Personen aus der Ukraine bei den Jobcentern gemeldet und suchen eine Arbeit. „Mit der Aufenthaltserlaubnis verbindet sich für diese Gruppe ein direkter Zugang zum Arbeitsmarkt. Ausschlaggebend dafür ist ein entsprechender Vermerk im Aufenthaltstitel oder in der Fiktionsbescheinigung“12 „Mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG steht Flüchtlingen aus der Ukraine auch das ganze Programm arbeits- und integrationsfördernder Maßnahmen offen“.

Politische Einschätzung

80 Prozent privat untergebracht – Wechsel vom AsylbLG zu den Sozialbüchern – Unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt – Das Bundesland Baden-Württemberg steht vor Herausforderungen bei der Unterbringung von Geflüchteten, vor allem aus der Ukraine. Bis Ende August 2022 kamen etwa 80 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine privat in Zimmern und Wohnungen unter. Das Land übernimmt die Kosten für privat untergebrachte Geflüchtete aus der Ukraine und zahlt gleichfalls eine Sonderprämie an die unterzubringenden einzelnen Haushalte.

Nach dem Rechtskreiswechsel haben die Geflüchteten aus der Ukraine unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Das ganze Programm arbeits- und integrationsfördernder Maßnahmen steht ihnen offen. Nach dem AZR wurden mehr als 1 Millionen Geflüchtete in den letzten 8 Monaten in der BRD aufgenommen. Sichtbar wird, wie das Asylrecht mitten in die Gesellschaft implementiert wird und wie jeder einzelne zu einem funktionierenden Asylrecht in diesem Land beitragen kann. Eine Implementierung des Asylrechts in der Gesellschaft durch aktive Einbeziehung der Bevölkerung, würde das Grundrecht auf Asyl und die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung weiter erhöhen, stärken und so auch inter“nationale“ Krisen entschärfen. Das zeigt die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine sehr deutlich.

Geflüchtete aus anderen Ländern – Für Geflüchtete, die nicht unter die Regelungen der EU-Massenstromrichtlinie fallen, gelten die ausgrenzenden Bestimmungen der Asyl- und Aufenthaltsgesetze, wie auch das AsylbLG. Für sie gilt in Baden-Württemberg das dreigliedrige Aufnahmesystem von der EA, in „Gemeinschaftsunterkünfte“, in Wohnungen. Die aktuellen Erfahren zeigen, dass die Erstaufnahmestellen ausschließlich für die Erfassung und für einen kurzzeitigen Aufenthalt geeignet sind. Die gesetzliche Unterbringung in EAs (Massenlagern) mit Arbeits- und Bildungsverboten bis zu 18 und mehr Monate und die existierenden intensiven Grundrechtseingriffe,erschweren die Aufnahme und gehen an den aktuellen Herausforderungen vorbei. Sie verschärfen die Situation und fördern rassistische Narrative. Die Solidarität und die Kontakte aus der Bevölkerung zu den Geflüchteten werden erschwert, Spenden müssen über einen bürokratischen Weg abgewickelt werden, das Leben in den EAs bleibt prekär und ausschließlich von den Behörden und der privat profitorientierten Sicherheitsfirmen bestimmt. Kritik an den Grundrechte einschränkenden Aufnahmestellen wurde von Aktion Bleiberecht in den letzten 2 Jahren ausführlich begründet. So führt das Leben in einer EA vom Kochverbot und Massenverpflegung, über Besuchsverbote und Zimmerkontrollen zu permanenten Eingriffen in die Selbstbestimmung der Menschen.

Bei der vorläufigen Unterbringung („Gemeinschaftsunterkünften“ 24 Monate) können im Einzelfall, auch schon vorher, wenn ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht und der Lebensunterhalt gesichert ist, Wohnungen zur Verfügung gestellt werden. Alle anderen müssen nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetzes ihre Zeit mit teilweise intensiven Einschränkungen in kommunalen Sammellagern verbringen.

Aufnahmestopp, Hallenunterbringung, Flüchtlingsgipfel – Wie bereits erwähnt, hält MP Kretschmann auch einen Aufnahmestopp von Geflüchteten nach Baden-Württemberg für möglich. Zahlreiche Gemeinden greifen auf die Unterbringung in Gemeindeeigenen Hallen zurück. Es muss davon ausgegangen werden, dass langfristig auf der kommunalen Ebene Unruhe entstehen wird und dass Rechte und Rechtsextreme die Situation nutzen um ihre rassistische Politik zu verbreiten. Das kann auch vermehrt zu Anschlägen führen, wie das bereits in Apolda der Fall ist.

Beim bundesweiten Flüchtlingsgipfel kündigte Bundesinnenministerin Faeser „eine digitale Plattform an, bei der sich Experten über die Bereitstellung von Bundesimmobilien sowie privater Unterkünfte austauschen können.“13 „Wie sich der Bund finanziell an den Flüchtlingskosten beteiligen will, soll in einer Bund-Länder-Runde Anfang November geklärt werden.“ 14

Erneut werden wieder Geflüchtete gegeneinander ausgespielt. Nach Statita 22 kamen bis August 2022 gleich 86.581 Geflüchtete über die Balkanroute. Das sind weniger Geflüchtete als Baden-Württemberg 2022 allein aufgenommen hat. Viele der Geflüchteten befinden sich schon längst in den Balkan-Staaten und versuchen, auch wegen fehlender Lebens-Perspektive, die Weiterwanderung. Dagegen will man nun beim Bund Front machen und verlängert die Einreisekontrollen zur österreichischen Grenze.

Der wichtigste Punkt wird sein, dass die Aktivitäten von Rechtsextremen genau beobachtet werden müssen, dass ihnen keine Plattform für ihre Hetze gegeben wird und dass eine weitere Solidarisierung mit allen Geflüchteten stattfindet. Das ist unser konkreter Beitrag für all die Menschen die von Krieg und Armut geflohen sind.

Was plant Baden-Württemberg? – Baden-Württemberg wird sich wohl in nächster Zeit noch stärker an der Claster-Politik des BAMF orientieren. Danach werden möglicherweise all jene, die in EAs und kommunalen Sammellagern leben und deren Chance auf eine letztendliche Anerkennung bzw. Aufenthaltschance gering sind vom „Aufnahmemanagenemt“15 weniger oder nicht mehr gefördert. Die Hierarchieliste ist bereits vorgegeben. Dublin, sichere Herkunftsländer, Länder mit geringer Anerkennungsquote, Folgeantragsteller …. Diese Claster-Politik wurde in Bezug auf die Anerkennung bereits im „Ankunftszentrum“ in Heidelberg erprobt und ist Praxis.

Seit den letzten 30 Jahren ist zu beobachten wie Kommunen in die Aufnahme von Geflüchteten investieren. Immer wieder werden Aufnahmeplätze auf und dann wieder abgebaut. Die leerstehenden Gebäude sollen in einer sogenannten „Bad (Gebäude) Bank“16 erfasst und entsprechend heruntergefahren werden. Die Kosten übernimmt das Land. Hier muss ein sofortiges Umdenken erfolgen.

Warum wird kommunal nicht in (Asyl)-Mehrzweckgebäude investiert, die temporär für die Unterbringung von Geflüchteten dienen und den Vorgaben von Wohnen entsprechen? Die Gebäude könnten bei niedriger Zahl von Geflüchteten von der Gemeinde für andere Zwecke genutzt werden. So würden im ganzen Land potentielle Aufnahmeplätze existieren.

Fazit

  • Die Aufnahme von Geflüchteten muss direkt in die bundesdeutsche Gesellschaft stattfinden, d. h. sie muss vor allem auch privat möglich sein, um Massenlager zu verhindern. Sie soll an erster Stelle stehen.

  • Private Unterbringung in Wohnungen muss vom Land gefördert werden.

  • Kommunale oder vom Kreis verwaltete Sammellager müssen durch eine andere Unterbringungsform, die dem Standard von Wohnen entsprechen, ersetzt werden.

  • Um einen unnötigen Auf- und Abbau von Aufnahmeplätzen zu verhindern, sollte in jeder Kommune langfristig (Asyl)-Mehrzweckgebäude zur Aufnahme von Geflüchteten errichtet werden, die bei geringer Zahl von Geflüchteten von den Gemeinden selbst genutzt werden können. Wohnstandard ist Voraussetzung. Gemeinden greifen immer wieder auf eine Zwischennutzung von z. B. Turnhallen zurück und praktizieren oben genannte Politik bereits auf unterstem Level.

  • Die Wohnsitzauflage ist aufzuheben! Die gesetzlichen Bestimmungen die Erstaufnahmeeinrichtungen begründen, gehen an der Realität vorbei und sind für eine Aufnahme von Geflüchteten untauglich.

  • Der Versuch von Rechten und Rechtsextremen ihre Spaltungspolitik (Deutschland zuerst = AfD), (Sozialschmarotzer = Merz) (Sozialhilfe als Pull-Faktor) etc. voranzubringen, muss durch direkte Solidarität und einer weiteren Aufnahme von Geflüchteten entgegengetreten werden.

  • Rechtsextreme Aktivitäten müssen genau beobachtet werden. Ihnen darf für ihre Hetze keine Plattform geboten werden. Solidarität mit den Geflüchteten muss sichtbar werden.

 Verf. Walter Schlecht

7Quelle siehe Fußnote 6

12Quelle 10 Seite 26

16Siehe Fußnote 13