„Führung als Schicksal“
„Pack mer’s, Deutschland“
Die Forderung nach einem offensiveren weltpolitischen Auftreten Deutschlands dominiert die Schwerpunktbeiträge in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik (IP). Das Blatt wird von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben; es gilt als das wichtigste Sprachrohr des deutschen Außenpolitik-Establishments. Die soeben publizierte Nummer ist vor allem der Frage nach den Grundlinien der künftigen Berliner Außenaktivitäten gewidmet. Das Titelbild zeigt die deutsche Kanzlerin nach ihrer Münchner „Bierzeltrede“ vom 28. Mai, in der sie erklärt hatte: „Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen.“[1] Das Motto auf der IP-Titelseite lautet: „Pack mer’s, Deutschland“.
„Ringe der Unsicherheit“
Ein zentraler Bezugspunkt der Überlegungen, die teilweise namhafte Experten in der aktuellen IP anstellen, ist eine angenommene äußere Bedrohung, der sich Deutschland gegenübersehe. So ist beispielsweise von „drei Ringen der Unsicherheit“ die Rede, die sich „über Jahre hinweg … um Deutschland gelegt“ hätten.[2] Der erste Ring bestehe „aus dem unmittelbaren EU-Umfeld“; er sei unter anderem durch „die Fragilität des Euro“ und „das Gedeihen populistischer Bewegungen im Schatten von deutscher ökonomisch-politischer Übermacht“ geprägt. Ein zweiter Ring ziehe sich „halbmondförmig von Rabat bis Donezk“; er umfasse neben Krisenstaaten wie Tunesien oder Ägypten auch Kriegsgebiete wie Mali, Libyen, den Jemen und die Ukraine. Darüber hinaus sei ein dritter Ring „noch kaum im deutschen Bewusstsein verankert“; er verlaufe von umstrittenen Inseln im Südchinesischen Meer bis nach Nordkorea, dessen Raketen mittlerweile „nicht nur befreundete Demokratien wie Südkorea und Japan bedrohen, sondern letztlich auch den NATO-Verbündeten USA“.
Stockende Expansion
Der Autor des Beitrags über die „Ringe der Unsicherheit“ – Jörg Lau, Außenpolitik-Koordinator im Politikressort der Wochenzeitung Die Zeit – attestiert der Bundesrepublik „jeweils abnehmende[…] Einflussmöglichkeiten“. So sei im ersten Ring „der deutsche Einfluss sehr hoch“, wenngleich dort die „Gefahr unerwünschter Rückschläge bei allzu offensichtlicher Dominanz“ Berlins bestehe.[3] Bereits im zweiten Ring – es handelt sich um das Gebiet, in dem die meisten Auslandseinsätze der Bundeswehr durchgeführt werden – habe Deutschland „nirgendwo unmittelbaren Einfluss“, könne aber „durch Beteiligung an multilateralen Lösungen erheblich mitgestalten“. Im dritten Ring – in Ostasien – verfüge die Bundesrepublik allenfalls über „indirekte“ Einflussmöglichkeiten. Aus dem Befund, dass die deutsche Außenpolitik an Grenzen ihrer Macht stoße, zieht der Autor den Schluss, Berlin benötige „mehr Härte“; vor allem komme es auf „Stabilisierung“, auf Bestandssicherung an. Es gebe einen „Bruch mit der Phase zwischen Mauerfall, EU-Erweiterung, Farben-Revolutionen, Grüner Bewegung im Iran und arabischen Revolten“, in der der Westen weit ausgegriffen habe. Die ein Vierteljahrhundert währende Ära ungehinderter westlicher Expansion ist demnach zumindest vorläufig vorbei.
„Gewaltbereit (win-lose)“
Mit Blick auf die weltpolitischen Machtkämpfe der Zukunft attestiert ein weiterer IP-Beitrag der Bundesrepublik eine „fundamentale[…] Ich-Schwäche“.[4] „Nicht Freiheit, Frieden und Wohlstand“ seien die obersten Maximen der Berliner Politik, „sondern moralisches Sauberbleiben“, behauptet Jan Techau. Techau, ein ehemaliger PR-Spezialist der Bundeswehr, amtiert heute als Direktor des Richard C. Holbrooke Forums an der American Academy in Berlin. Er behauptet, Deutschland sei durch die NS-Menschheitsverbrechen „tiefentraumatisiert“ und müsse, um „gesunde Ambitionen“ zu entwickeln, „sich selbst vergeben“; nur dann könne es den „außenpolitischen Gestaltungswillen“ entwickeln, der für „die konzeptionelle Weiterentwicklung“ sowie für „die diplomatische und militärische Absicherung“ der Weltordnung vonnöten sei. Techau dringt auf ein „Grundverständnis“ über die Beilegung internationaler Konflikte: Man müsse „sowohl Anreize zum Wohlverhalten schaffen (win-win) als auch, im Notfall, selbst zur Gewalt bereit und in der Lage sein (win-lose)“.
Wille zur Macht
Das gilt laut Techau nicht nur für Deutschland, sondern auch für die EU. „Ein stärkeres Europa“ müsse „den Willen zur Macht beinhalten“, heißt es in seinem Beitrag: „Es wird nicht ohne Machtambitionen und harte, kompromissbehaftete Realpolitik zustande kommen.“ Dabei werde es „auf deutsche Ressourcen als Machtmittel zurückgreifen müssen“. Der Bundesrepublik empfiehlt Techau, sich als Schutzpatron der EU („dienender Führer“) zu geben: Ein „dienender Führer“ trete „als mächtiger Diener hinter die Partner zurück“ und stelle sich, „wenn es darauf ankommt, schützend vor sie“. Allerdings gebe er auch die politische Richtung vor: „Er entwickelt, wirbt und exponiert sich mit Macht für die Ideen, die der gemeinsamen Sache dienen.“ So entstehe „wahre Größe“, behauptet Techau, der „den Deutschen“ eine „schicksalhafte[…] Aufgabe zur Führung in Europa“ zuschreibt.[5]
Die Isolierung des Rivalen
Die Beiträge werden in der aktuellen IP um ein Interview mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und um weitere Artikel ergänzt, in denen Experten und Bundestagsabgeordnete unter anderem für die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats und für eine intensivere Außenpolitik-PR gegenüber der Bevölkerung plädieren. Sie geben einen exemplarischen Einblick in die aktuellen Befindlichkeiten im aufstrebenden, machthungrigen deutschen Establishment. Die Publikation der Texte erfolgt zu einer Zeit, zu der es erstmals einer deutschen Bundeskanzlerin zu gelingen scheint, einen US-Präsidenten in einer zentralen Frage der Weltpolitik – nämlich im Streit um Freihandel – international weithin zu isolieren: Vor dem heute beginnenden G20-Gipfel haben zentrale Mächte wie China, Russland oder Japan sich im Kampf gegen den Protektionismus der US-Administration offen an Deutschlands Seite gestellt.[6] Berlin hat den Kampf um eine führende Position in der Weltpolitik aufgenommen.