Das erinnert an die Passgesetze der Apartheid

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Birgit v. Criegern 17.05.2009

Ein Flüchtling in Thüringen musste ins Gefängnis gehen, weil er mehrfach
seinen Landkreis verließ. Die sogenannte Residenzpflicht beschränkt die
Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen – und sorgt für Polizeikontrollen
aufgrund der Hautfarbe Weil er wiederholt gegen das Gesetz verstieß, wurde
ein Flüchtling in Thüringen jetzt zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Er
hatte aber nichts getan, als sich selbständig zu bewegen – und den tristen
Landstrich seines Wohnheims hin und wieder ohne die Erlaubnis der
Ausländerbehörde zu verlassen. Das Gesetz der Residenzpflicht sorgt dafür,
dass deutsche Gerichte ständig auf Hochtouren arbeiten und eine Vielzahl
von Flüchtlingen zu Straftätern erklärt werden – wenn sie zum Macdonald’s
in der Nähe gehen oder zum Familienbesuch in ein anderes Bundesland
fahren. Politiker der Partei Die Grünen protestierten nun gegen die
Auflage der Residenzpflicht. Schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert
sorgt die Auflage für Segregation und Polizeikontrollen aufgrund
migrantischen Aussehens in Deutschland. Manche fühlen sich an die
Apartheid erinnert.Dem Flüchtling Felix Otto aus Kamerun, der seine Gefängnisstrafe seit dem
April antreten musste, droht nach Angaben der Flüchtlingsorganisation
The Voice die anschließende Abschiebung. Die Organisation fordert
hingegen seine sofortige Freilassung. Otto hatte nichts getan, als sich
selbständig von Ort zu Ort zu bewegen – und er hat jetzt schon einen
Leidensweg in Deutschland hinter sich.

Die Probleme begannen schon seit seiner Zuweisung in den thüringischen
Landkreis Schleiz im Jahr 2000. Immer wieder sah er sich gezwungen, die
Landkreisgrenze zu überschreiten – das ist für Flüchtlinge in der Regel
genehmigungspflichtig. Sein Heim lag „in Rodarabrunn, einem typischen
Lager mitten im Wald. Es gab keinen Supermarkt, keinen Laden, nur zweimal
am Tag einen Bus – der von uns nur in eine Richtung genutzt werden durfte,
denn für uns galt die ehemalige Grenze zwischen DDR und BRD noch immer.
Nach Bayern zu fahren, wo es mit Kronach eine größere Stadt gegeben hätte,
hätte als Straftat gegolten, denn dazu hätte man den Landkreis verlassen
müssen.“
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Ständig wurde Otto sanktioniert, ständig gingen die Probleme für ihn
weiter. Im Jahr 2007 wurde er im Auto eines Freundes von der Polizei
angehalten und kontrolliert – aufgrund seiner Hautfarbe. Wieder war er auf
einer Fahrt außerhalb des Landkreises ertappt worden. Otto berichtet auf
der Homepage von „The Voice“, dass er über Jahre hinweg 990
Arbeitsstunden, z. T. als Küchengehilfe, leisten musste – weil er ohne
„Urlaubsschein“ der Behörde alltäglichen Besorgungen nachgegangen war.
Laut Ellen Könneker vom Flüchtlingsrat Thüringen ist das Usus. „Immer
wieder kommt es für Flüchtlinge wegen Residenzpflichtverstößen zu
vergleichsweise hohen Geld- oder Arbeitsstrafen.“

Dieses Gesetz bedeute eine „absolute Schikane für die Flüchtlinge“. Es
würde von den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. „In Thüringen geht
man da schon ziemlich restriktiv vor.“ Dabei stammen die Anlässe für
Sanktionen immer wieder aus dem Gebiet der Bagatellen. Beispiel Sonneberg:
Bei dem Ort befinde sich ein Asylbewerberheim, dessen Bewohner, besonders
jüngere Leute, auch mal zum Macdonalds in wenigen hundert Metern
Entfernung gegangen sind – dabei übertraten sie dann aber die Grenze zum
bayrischen Landkreis Hof. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, der
MigrantInnen unterliegen, sei für deutsche Staatsbürger „kaum
vorstellbar“, meint Könneker, und von dem Vorhandensein dieses Gesetzes
gebe es keine breite Kenntnis in der deutschen Bevölkerung. Indessen
bringe es eine „Riesenunsicherheit für die Flüchtlinge mit sich, indem sie
beispielsweise ständig vor Polizeikontrollen Angst haben müssen, obwohl
sie ja nichts verbrochen haben.“

„In Europa einzigartige Form der Abschreckung“

Seit 1982 ist der fragliche Paragraph 56 im Asylverfahrensgesetz
verankert, der die Residenzpflicht vorschreibt, und kommt eklatant einer
anderen Gesetzgebung, nämlich dem Paragraphen 13 der Genfer
Menschenrechtskonvention in die Quere, demzufolge jeder Mensch das Recht
auf Freizügigkeit habe. Für Flüchtlinge soll dieses Recht also nicht
gelten. Die offizielle Begründung: Asylbewerber sollten stets für die
Bearbeitung ihres Verfahrens erreichbar sein. Faktisch bedeutet das
unsinnige Kontrollen für Flüchtlinge, auch für abgelehnte Asylbewerber. Ob
die Fahrt zu Freunden oder nur der Einkauf in einem anderen Landkreis,
alles muss erst bürokratisch genehmigt werden. Oft gibt es keine
Genehmigungen.

„Eine rassistische und stigmatisierende Politik“ sieht Karl Kopp von der
Menschenrechtsorganisation Pro Asyl mit der Residenzpflicht
aufrechterhalten, weil den Betroffenen „elementare soziale Rechte“
verweigert würden. Pro Asyl fordert die Abschaffung des Gesetzes. Mehr
zivilgesellschaftlicher Protest könnte eine Weichenstellung dafür
geben.

Die Flüchtlinge kommen nach Deutschland mit Hoffnungen und einer großen
Bereitschaft, etwas Positives in die Gesellschaft einzubringen, aber dann
werden sie per Gesetz daran gehindert, am gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen. Viele zerbrechen daran. In Europa ist diese Form der
Abschreckung – über Jahre hinweg die Bewegungsfreiheit im Asylland zu
verweigern- einzigartig. Zwar werden auch in anderen Ländern den
Asylsuchenden Wohnorte zugewiesen, aber Sanktionen, um sie am Verlassen
ihres Aufenthaltsortes zu hindern, die gibt es nur in Deutschland.
Karl Kopp

Und es war Deutschland, das im Jahr 2003 die Residenzpflicht sogar als
„Kann-Bestimmung“ in einer EU-Asylrichtlinie durchsetzte.

In der Initiative „Togo Action Plus“ protestieren Migranten gegen ihre
Behandlungsweise in Deutschland. Komi E., Einwanderer togoischer Herkunft,
von der Initiative: “ Derzeit führen wir eine bundesweite [extern]
Faxkampagne für Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge, und gegen die
Residenzpflicht. Dies ist ein Isolationsgesetz, das dazu geschaffen wurde,
damit wir MigrantInnen in keinen Kontakt mit der Bevölkerung kommen,
sondern im Heim bleiben – eine rassistische Ausgrenzung.“

Probleme beim Beantragen des „Urlaubsscheines“ seien gang und gäbe, sagt
Komi E.: „Als ich meine Freundin in Berlin heiraten wollte und in meinem
Landkreis Saalkreis den Urlaubsschein beantragte, wurde ich gefragt: Wie
habt ihr euch überhaupt kennengelernt? Die Sachbearbeiter fragten nach
Einzelheiten und wollten erfahren, ob ich in der Vergangenheit heimlich
nach Berlin gefahren wäre, denn dann hätte ich mich strafbar gemacht. Sie
zweifelten an meiner Partnerschaft und erklärten, das reiche nicht aus für
eine Heirat. Ich musste lange argumentieren, bevor sie mir den
Urlaubsschein gegeben haben.“ Dazu komme die enervierende Situation auf
Bahnhöfen und auf der Straße, weil Komi E. wie andere Farbige immer wieder
von Polizeikontrollen betroffen ist.

„Togo Action Plus“ fordert auch den Stopp der gezielten Polizeikontrollen:
„Wir Afrikaner werden mehr kontrolliert, sobald Polizisten unsere
Hautfarbe sehen, und die Leute, die die Kontrolle miterleben, sehen uns
aufgrund dessen als kriminell an“, heißt es in ihrem Protestschreiben.
Herr E. klagte außerdem im Jahr 2007 gegen die Gebührenzahlung für die
„Urlaubsscheine“. Wer z. B. im Saalkreis als Flüchtling beabsichtigt zu
reisen, muss zehn Euro für den Antrag bezahlen. Flüchtlinge haben aber in
der Regel nicht mehr als 40 Euro Bargeld monatlich zur Verfügung. Die
Klage beim Amtsgericht Halle wurde bis heute nicht bearbeitet. Darum
bereiten sich die Migranten jetzt auch zur Demonstration vor dem
Amtsgericht in Halle/Saale am 26. Mai vor.

Behördenwillkür und die Erinnerung an Kolonialgesetze

Integration wird von dem Gesetz offenbar geradezu virtuos verhindert. Die
Migranten stehen vor einer amtlichen Hürde, z. B. wenn sie den Wunsch
verspüren, aus den Regionen ihrer Heime herauszukommen, die sich meist in
abgelegenen waldigen Gegenden befinden. Auch werde so gut wie nie erlaubt,
den Landkreis für Bildung, etwa den Besuch von Deutschkursen, zu
verlassen. Das berichtet die Sozialwissenschaftlerin Beate Selders, die
das [extern] Buch „Keine Bewegung! Die Residenzpflicht für Flüchtlinge –
Bestandsaufnahme und Kritk“ (Hrsg. Flüchtlingsrat Brandenburg und
Humanistische Union 2009) schrieb, eine umfassende Übersicht über das
Gesetz, seine politischen Hintergründe und Auswirkungen, die kürzlich neu
erschienen ist. Ein Jahr lang hatte sie Fälle gesammelt und Interviews mit
Flüchtlingen und Personen aus migrantischer Hilfe und Sozialforschung über
das Gesetz der Bewegungseinschränkung geführt. Betroffene vermuteten, dass
die sogenannten Urlaubsscheine zum Verlassen der Landkreise willkürlich
vergeben werden. Selders‘ Befragung von Ausländerbehörden bestätigte das:
„Dafür gibt es meist interne Regeln, aber die sind für Außenstehende
völlig untransparent.“

Die Gefängnishaft, zu der Felix Otto verurteilt wurde, ist nach Kenntnis
von Selders keine Seltenheit, wenngleich sie nicht immer so hoch ausfällt.
Dabei werde die Logik des Strafrechts angewendet, wonach Delikte bei
Wiederholung mit steigendem Strafmaß und schließlich mit Haft zu ahnden
seien. Zwischen 80 und 100 Flüchtlinge seien es jährlich, die bundesweit
aus dem gleichen Grund wie Otto in den Knast gehen müssten, sagt Selders.

Mehr als 160.000 Strafverfahren gab es in der BRD seit 1982 gegen
Flüchtlinge, die sich unerlaubt aus den zugewiesenen Kreis- oder
Bundeslandgrenzen fortbewegt haben, sagt Selders. Auch sie ist der
Ansicht, dass deutsche Staatsbürger noch nicht allzu viel von dieser
massiven Lebenseinschränkung für Flüchtlinge wissen.

Selektive Polizeikontrollen aufgrund fremdländischen Aussehens und der
Hautfarbe, starke Einschnürung bei der privaten Lebensplanung und bei
notwendigen Gängen im Alltag- das erinnert an die Passgesetze der
Apartheid , meint Selders. „Eine solche Erinnerung liegt für die
Betroffenen sehr nahe, zumal wenn jemand aus der Westbank oder aus einem
afrikanischen Staat kommt.“ Und: „Das Gesetz bedeutet institutionellen
Rassismus, das muss weg.“ Parallelen zu Wortlaut und Strafmaß in der
faschistischen Ausländerpolizeiverordnung von 1938 erblickte gar Michael
Stoffels, der zu einem früheren Grundrechte-Report der BRD [extern]
beitrug, in der Residenzpflicht. Politiker reagierten auf diese Kritik
empfindlich, und wiesen sie von sich.

Die Aktivisten von „Togo Action Plus“ sehen laut Protestschreiben
kolonialgesetzliche Analogien zu dem Paragraphen 56: „Es sollte daran
erinnert werden, dass es während der Kolonialisierung Togos, Kameruns und
weiterer Länder durch Deutschland der Bevölkerung nicht erlaubt war, ihr
jeweiliges Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige Sondergenehmigung
zu verlassen.“

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