Senat verweigert dringend nötige medizinische Versorgung
Presseinformation vom 16. Juli 2014. / Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales LAGeSo übernimmt zwar die Kosten der Unterbringung und der monatlichen Geldleistungen für die Flüchtlinge vom Oranienplatz und die ehemaligen BewohnerInnen der Gerhart-Hauptmann-Schule, verweigert aber nachdrücklich die Ausstellung von Krankenscheinen. Schwerwiegende körperliche und psychische Erkrankungen wie Epilepsie, Hepatitis, Lungenentzündung, posttraumatische Belastungsstörungen und Angstpsychosen werden nicht behandelt. Auch die Nachversorge eines am Darm notoperierten Mannes wird verweigert. Die nach dem Infektionsschutzgesetz zwingend vorgeschriebenen Untersuchungen für BewohnerInnen von Gemeinschaftsunterkünften finden ebenfalls nicht statt.
Georg Classen, Sozialrechtsexperte des Berliner Flüchtlingsrats erklärt dazu: „Es ist unverantwortlich, dass der Senat die Flüchtlinge zwar unterbringt, ihnen dabei aber das existenziellste aller Grund- und Menschenrechte verweigert – das Recht auf Gesundheit und medizinische Versorgung.“
Das Menschenrecht auf Gesundheit wird in Art. 25 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Art. 35 Europäische Grundrechtecharta garantiert. Das Grundrecht auf Gesundheit ist Teil des in den Verfassungsgerichtsurteilen zum ALG II und zum Asylbewerberleistungsgesetz bestätigten Grundrechts auf eine menschenwürdige Existenzsicherung.[1]
Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und SGB XII sind die Flüchtlinge vom Oranienplatz und aus der Gerhart-Hauptmann-Schule leistungsberechtigt, auch hinsichtlich medizinischer Versorgung. Der „tatsächliche“ Aufenthalt, verbunden mit materieller Bedürftigkeit (keine Krankenversicherung, kein ausreichendes Einkommen) reicht für den sozialrechtlichen Anspruch auf Existenzsicherung einschließlich Krankenhilfe aus.[2]
Durch die faktische Duldung der Flüchtlinge zunächst auf dem Oranienplatz-Camp und in der Gerhart-Hauptmann-Schule sowie durch die im Anschluss gewährte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und Geldzahlungen ist eine aufenthalts- und sozialhilferechtliche örtliche Zuständigkeit des Landes Berlin entstanden, die die Gewährung von Krankenhilfe einschließt (dazu ausführlich Gutachten von Prof. Fischer-Lescano und Klarstellung des Flüchtlingsrats, siehe unten).
In einem offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister haben Berliner ÄrztInnen am 23. Juli 2014 gefordert, die medizinische Versorgung für die Oranienplatz-Flüchtlinge zu gewährleisten (siehe unten). Auch die Beratungsteams von Diakonie und Caritas haben sich an die Sozialverwaltung gewendet und auf die Folgen der verweigerten medizinischen Versorgung ihrer KlientInnen hingewiesen. Das LAGeSo stellt sich jedoch weiterhin stur.
In einer E-Mail vom 11. Juli 2014 erklärt die zuständigen Abteilungsleiterin des LAGeSo den BeraterInnen des Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte, dass die Krankenhilfe nicht Teil der „freiwilligen“ Leistungen sei, die der Senat in seinen diesbezüglichen Beschlüssen definiert habe. Die einzige Lösung sei, dass der Klient einen Asylantrag stelle, nur dann habe er Anspruch auf medizinische Leistungen. Bis dahin sei auf die Rettungsstationen der Krankenhäuser zu verweisen.
„Mit dieser Antwort verstößt das LAGeSo gegen die Pflicht, vollständige, richtige und unmissverständliche Auskunft zu erteilen. Bekanntlich gehört es nicht zu den Aufgaben der Rettungsstationen, eine laufende ambulante Krankenbehandlung sicherzustellen. Der an Epilepsie erkrankte Flüchtling muss auch nicht erst einen Asylantrag stellen um Medikamente zu erhalten, er ist bereits jetzt nach dem AsylbLG anspruchsberechtigt. Die Rechtslage ist nach internationalen Rechtsstandards, Grundgesetz und deutschem Sozialrecht eindeutig, Berlin muss auch medizinische Leistungen gewähren“, so Georg Classen.
Offensichtlich hat das LAGeSo Anweisung von Gesundheits- und Sozialsenator Czaja, rechtswidrig jegliche medizinische Versorgung zu verweigern. Der Flüchtlingsrat fordert den Senator auf, umgehend das menschenwürdige Existenzminimum nach dem AsylbLG einschließlich des Grundrechts auf Gesundheit sicherzustellen.[3]
Pressekontakt: Flüchtlingsrat Berlin, Tel: 030-24344 57 62
Weitere Informationen:
Klarstellung des Flüchtlingsrats zum Anspruch auf Krankenscheine und zur leistungsrechtlichen Zuständigkeit Berlins: www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Krankenscheine_Lampedusa.pdf
Rechtsgutachten von Prof. Fischer-Lescano zum „Einigungspapiers Oranienplatz“: www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/themen/auslaender_asylrecht/140618_Rechtliche_Situation_der_Fluechtlinge_vom_Oraninienplatz.pdf
„Probleme bei der gesundheitlichen Versorgung der Oranienplatzflüchtlinge“, offener Brief von Berliner ÄrztInnen an den Regierenden Bürgermeister Wowereit und Sozialsenator Czaja:
www.fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/OffenerBrief_medVersorgung.pdf
Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 zum Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle in Deutschland lebende In- und Ausländer gleichermaßen:
www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20120718_1bvl001010.html
[1] Das aus Art. 1 Abs. 1 (Menschenwürdegrundsatz) und 20 Abs. 1 Grundgesetz (Sozialstaatsprinzip) begründete Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum umfasst die soziale Teilhabe und die physische Existenz, einschließlich des Grundrechts auf Gesundheit. Dieses Grundrecht steht Deutschen und Ausländern gleichermaßen zu, es muss in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Dabei ist die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren, so das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 zum AsylbLG, Leitsatz 2 sowie Rn 120 f. Zum Menschenrecht auf Gesundheit vgl. ausführlich Flüchtlingsrat Berlin, Stellungnahme zum Entwurf des BMAS für ein verfassungskonformes AsylbLG, Seite 33 f., Juli 2014, www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Stellungnahme_FR_Berlin_AsylbLG_2014_BMAS.pdf.
[2] Anspruch haben Asylbewerber, Ausländer mit (faktischer) Duldung und ausreisepflichtige Ausländer ohne legalen Aufenthalt gleichermaßen nach § 1 Abs. 1 iVm § 4 AsylbLG, legal aufhältige Ausländer nach § 23 Abs. 1 iVm § 48 SGB XII.
[3] Vgl. Urteil des BVerfG v. 18.07.2012, a.a.O.
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