Für ein “Watch The Med Alarm Phone”
Liebe Freundinnen und Freunde,
Im Oktober soll ein neues transnationales ambitioniertes Projekt für den Mittelmeerraum starten: ein alternatives Alarmnetzwerk mit einer rund um die Uhr besetzten Telefonnummer. AktivistInnen aus mehreren Netzwerken, die seit vielen Jahren an den Außengrenzen der EU engagiert sind, haben in den vergangenen Monaten zusammengearbeitet, um die Grundlagen für dieses „Alarm-Phone“ zu schaffen. Angehängt findet sich der Aufruf, der ab 25.9.2014 veröffentlicht werden soll. Die Nummer des „Watch The Med Alarm Phone“ wird voraussichtlich am 10. Oktober bekannt gegeben. Gefragt sind nun zunächst alle interessierten Organisationen, Gruppen sowie Einzelpersonen, ob sie das Projekt mit ihrer Unterschrift unter dem Aufruf politisch unterstützen wollen. Ab Anfang Oktober soll es in eine möglichst breite Öffentlichkeit gebracht werden und ab 10.10 werden wir die Nummer über Kontakte in den migrantischen und Flüchtlingscommunities in den zentralen Transitländern zirkulieren lassen. Last not least: das Projekt sucht und benötigt weitere Mitwirkende auf allen praktischen Ebenen: Von technischer Betreuung über Dokumentation und Übersetzungen bis zu den Telefon-Schichtdiensten. Wer mehr zum Projekt erfahren möchte, bitte an folgende Adresse schreiben:
wtm-alarm-phone@antira.info
Aufruf für ein Notruftelefon für Boatpeople
Für ein “Watch The Med Alarm Phone”
11. Oktober 2013: Mehrfach rufen Flüchtlinge auf einem sinkenden Boot per Satellitentelefon die italienische Küstenwache an und bitten um dringende Hilfe. Doch ihr SOS wird nicht ernst genommen. Über 400 Menschen befinden sich auf dem Boot, das in der Nacht zuvor von einem libyschen Schiff beschossen wurde. Obwohl zunächst die italienischen und später auch die maltesischen Behörden von der unmittelbaren Gefährdung der Passagiere informiert sind, verzögern sich die Rettungsmaßnahmen um mehrere Stunden. Patrouillenschiffe erreichen die Unglücksstelle, nachdem das Boot bereits eine Stunde gesunken war. Mehr als 200 Menschen sterben, nur 212 werden gerettet.
Was wäre passiert, wenn die Boatpeople einen zweiten Notruf an eine unabhängige Hotline hätten richten können? Wenn ein Team von zivilgesellschaftlichen Akteuren sofort Alarm geschlagen und Druck zur Rettung auf die Behörden ausgeübt hätte?
Ein Jahr nach der Tragödie von Lampedusa am 3. Oktober sowie dem oben beschriebenen Fall des “Left-to-die” stellt sich die Situation nicht weniger dramatisch dar. Zwar sind im Rahmen des italienischen Militäreinsatzes „Mare Nostrum“ in den letzten 11 Monaten über 100.000 Flüchtlinge und MigrantInnen gerettet worden, doch allein im zentralen Mittelmeer sind erneut mehr als 1300 Menschen zu Opfern des Grenzregime geworden. Anfang 2014 wurden wir Zeugen weiterer Todesfälle an den Außengrenzen der EU: am 20. Januar starben 12 Flüchtlinge, während ihr Boot in hoher Geschwindigkeit von der griechischen Küstenwache in Richtung türkischer Küste zurückgezogen wurde. Und am 6. Februar schossen spanische Grenzpolizisten mit Gummigeschossen auf schwimmende Migranten, als diese versuchten, die spanische Enklave Ceuta zu erreichen. Infolgedessen kamen mehr als 14 Menschen ums Leben.
Dies sind keine Einzelfälle sondern nur die offensichtlichsten in einer Reihe ähnlicher tödlicher Übergriffe, mit denen MigrantInnen auf See im gesamten Mittelmeerraum konfrontiert sind. Doch wäre es zu diesen Todesfällen gekommen, wenn zivilgesellschaftliche Akteure informiert gewesen wären und politischen Druck und Einfluss ausgeübt hätten, und zwar vor und nicht erst nach diesen Geschehnissen?
Wir können es nicht länger ertragen, hilflos zuzusehen, wie sich solche Tragödien wiederholen. Wir wollen mehr tun, als diese Übergriffe nachträglich zu verurteilen.Wir sind überzeugt, dass ein alternatives Alarm Netzwerk, getragen von der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten des Mittelmeeres, eine Veränderung bewirken kann.
Wir verfügen über kein Rettungsteam, wir bieten keinen direkten Schutz. Wir wissen um unsere begrenzten Möglichkeiten, wir wissen um den provisorischen und prekären Charakter unserer Initiative. Wir wollen jedoch unmittelbar Alarm schlagen, wenn Flüchtlinge und MigrantInnen in Seenot geraten und nicht unverzüglich gerettet werden. Wir wollen in Echtzeit dokumentieren und sofort skandalisieren, wenn Boatpeople zu Opfern von „Push-Backs“ oder in Länder wie Libyen zurückgeschoben werden, in denen die Rechte von MigrantInnen permanent verletzt werden. Wir wollen mit politischem Druck und öffentlicher Mobilisierung eingreifen gegen das Unrecht, das sich tagtäglich an den Außengrenzen der EU abspielt.
Wir wissen, dass solcher Druck wirksam sein kann. Denn bereits seit Jahren werden Einzelpersonen aktiv, sobald sie über familiäre oder soziale Verbindungen Notrufe von MigrantInnen auf See erhalten. Sie benachrichtigen die Behörden und stellen sicher, dass Rettungsmaßnahmen erfolgen. Wir wollen diese Ansätze aufgreifen und ihre politische Bedeutung zur Unterstützung der Rechte der MigrantInnen auf Bewegungsfreiheit verstärken.
Deshalb haben wir uns zum Ziel gesetzt, ab dem 10. Oktober 2014 in enger Kooperation mit dem Monitoring-Projekt Watch The Med ein alternatives Alarmtelefon zu starten. Es wird rund um die Uhr besetzt sein, mit einem multilingualen Team in Bereitschaft, getragen von MenschenrechtsaktivistInnen von beiden Seiten des Mittelmeeres. Allen Betroffenen in Seenot raten wir, zuerst die offiziell verantwortlichen Rettungskräfte zu alarmieren. Wir werden zudem selbst die Küstenwachen anrufen, ihre Handlungen verfolgen und ihnen deutlich machen, dass wir informiert sind und sie beobachten. Sollten sie nicht reagieren, werden wir allen erdenklichen politischen und öffentlichen Druck aufbauen, um sie dazu zu zwingen. Wir werden Schiffskapitäne in der Nähe des Unglücksortes alarmieren wie auch internationale JournalistInnen, wir informieren engagierte Würdenträger aller Konfessionen und prominente UnterstützerInnen. Wir nutzen die kritische Netzöffentlichkeit für Just-in-Time-Kampagnen und rufen alle auf, sich an der Entwicklung weiterer kreativer Interventionsformen zu beteiligen.
Das Sterben-Lassen auf See, die Menschenrechtsverletzungen der EU Grenzschutzagentur Frontex und der Grenzpolizeien in allen Teilen des Mittelmeeres müssen sofort gestoppt werden. Wir brauchen ein zivilgesellschaftliches Netzwerk auf beiden Seiten des Mittelmeeres, das politischen Druck entfalten kann für das Leben und die Rechte der Boatpeople, und wir wollen ein Teil davon sein. Ein solches alternatives Alarm-Netzwerk wäre nur ein erster aber dringend notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem euro-mediterranen Raum, der nicht von einem tödlichen Grenzregime geprägt ist sondern von Solidarität und dem Recht auf Schutz und auf Bewegungsfreiheit.
UnterzeichnerInnen des Aufrufs: …